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Date of Publishing:
February 22, 2022

© Anderwald + Grond

VOYAGE

Marcus Steinweg

- English translation by Gerrit Jackson -

Perhaps it is too obvious an image, too wedded to the cliché about thinking, to say of it that it is a voyage. All the same, the trope of the voyage has the advantage that it integrates thinking’s errancies and the dangers that beset it. Much has been said about the adventure of thinking, and maybe it remains possible to use the image, as long as the adventure does not regard the subject’s sexual disposition, or at least is not confined to a virilism that not only would be anachronistic today but has always been unseasonable.

One who thinks embarks on a voyage, leaves the territory of his origin or evidences behind to expose himself to experiences that can be incisive. As though the objective were to go in search of such incisions that redefine not just thinking but the subject in its entirety. To embark on a voyage into the unknown is perhaps nothing more than to leave oneself behind in pursuit of another image of oneself in whose light the world appears to one as strange. The voyage becomes a trip, a careening errantry, during which the subject often approaches the outer bounds of its zone of familiarity.

With a view to Deleuze’s conception of philosophy, Alain Badiou has rightly remarked that the writer’s terminological creations are the “fragmentary evidence of a ‘voyage’ to the edge of chaos.” In What Is Philosophy? Deleuze and Guattari go so far as to state that it is a voyage into the “land of the dead” (and back out of it). Nietzsche becomes exemplary here, his hyperboreanism. The insistence that thinking, by virtue of being thinking, moves in extreme zones, be they tropical or arctic.

Be that as it may, the objective is to expose oneself to the discomfort of momentarily losing one’s bearings and hence oneself. Faced with the chaos, the subject is easily dizzied, loses the ground under its feet and finds itself exposed to aporias that must be parried, borne with, overcome. The edge of chaos may also be called edge of nothingness or, in Lacan’s words, the edge of the real that submits to no imaginary and symbolic neutralization. It is the basic experience of philosophical thinking that the ground itself reveals itself to be groundlessness. To dwell on its edges without casting oneself into it is part of the philosophical voyager’s practice, which is why the latter requires both: caution and courage.

- German original -

REISE

Vielleicht ist es zu naheliegend, zu sehr dem Klischee vom Denken verhaftet, von ihm zu sagen, dass es eine Reise darstelle. Immerhin hat der Topos der Reise den Vorteil, ihre Irrungen und Gefährdungen zu integrieren. Oft hat man vom Abenteuer des Denkens gesprochen und vielleicht ist es weiterhin möglich, es zu tun, solange das Abenteuer eines ist, das die geschlechtliche Disposition des Subjekts unberücksichtigt lässt, sich zumindest nicht auf einen Virilismus beschränkt, der nicht nur heute unzeitgemäß wäre, sondern es immer war.

Wer denkt, geht auf Reisen, verlässt das Territorium seiner Herkunft oder Evidenzen, um sich Erfahrungen zu exponieren, die einschneidend sein können. Als ginge es darum, sich auf die Suche nach solchen Schnitten zu machen, die nicht nur das Denken, sondern das Subjekt im Ganzen redefinieren. Sich auf die Reise ins Ungewisse zu begeben, heißt vielleicht nicht mehr, als sich selbst zu verlassen, um einem anderen Bild seiner selbst zuzustreben, in dessen Licht die Welt mir als fremde erscheint. Die Reise wird zum Trip, zum schlingernden Umherirren, oft bewegt sich das Subjekt dabei den Rändern seiner Vertrautheitszone zu.

In Bezug auf Deleuzes Konzeption der Philosophie hat Alain Badiou zu Recht angemerkt, dass es sich bei dessen begrifflichen Neuschöpfungen ums „fragmentarische Zeugnis einer ‚Reise‘ an den Rand des Chaos“ handeln würde. In Was ist Philosophie? gehen Deleuze und Guattari so weit festzustellen, dass es um eine Reise ins „Land der Toten“ (und aus ihm zurück) ginge. Nietzsche wird hier beispielhaft, sein Hyperboräismus. Die Insistenz darauf, dass Denken qua Denken sich in extremen Zonen bewegt, mögen sie tropisch oder arktisch sein.

Jedenfalls geht es darum, sich die Unbequemlichkeit zuzumuten, für Momente mit der Orientierung sich selbst zu verlieren. Angesichts des Chaos taumelt das Subjekt leicht, es verliert den Boden unter den Füßen und findet sich Aporien ausgesetzt, die es zu parieren, auszuhalten, zu bewältigen gilt. Der Rand des Chaos kann auch Rand des Nichts heißen, oder mit Lacan formuliert, Rand des Realen, das sich keiner imaginären und symbolischen Neutralisierung fügt. Es ist Grunderfahrung philosophischen Denkens, dass der Grund selbst sich als Abgrund erweist. Sich an seinen Rändern aufzuhalten, ohne sich in ihn zu werfen, gehört zur philosophischen Reisepraxis, weshalb zu ihr beides gehört: Vorsicht und Mut.

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